Marianne Gäng (Hrsg.): Heilpädagogisches Reiten und Voltigieren. München: Ernst Reinhardt Verlag, 4. Auflage 1998.
 
 

a) Quantitatives: Fotos, Preis-Leistung, Seitenzahl, Größe

Das Buch enthält viele und teilweise sehr aussagekräftige Schwarz-weiß-Fotos. Es ist etwa DIN A 5 groß und hat 248 Seiten. Es kostet 42 DM. Es ist kartoniert (wie ein Taschenbuch mit glänzendem Einband) und gut gebunden (es läßt sich oft ganz aufschlagen wie etwa beim Kopieren, ohne daß Seiten herausfallen).
 
 

b) Schwerpunkte inhaltlich (z.B. Adressaten-Klienten, therapeutische Ausrichtung, Adressaten des Buches)

Da es sich bei dem Buch um einen Sammelband handelt, ist es schwer, von einer einheitlichen Adressatenorientierung, geschweige denn therapeutischen Ausrichtung, zu sprechen. Ich verweise deshalb auf die ausführliche Darstellung der einzelnen Beiträge.

Grundsätzlich läßt sich aber sagen, daß die Herausgeberin bemüht war, verschiedene Perspektiven in diesem Band zu Wort kommen zu lassen: Neben der rein beziehungsmäßig orientierten Therapie mithilfe von Ponys kommen auch ein eher sportorientiertes Voltigieren sowie ein psychomotorisches Reiten zu Wort ...

Wissenschaftstheoretisch könnte man zusammenfassen, daß die Bezugsautoren bzw. Therapieausrichtungen, auf die sich die Autoren berufen, dem Stand (zumindest in der Sonderpädagogik) der frühen 90er Jahre entsprechen ("Stand" ist hier keineswegs fortschrittsgläubig mißzuverstehen! Das Neuere ist nicht immer das Bessere!), will sagen: die neuesten konstruktivistischen Debatten, die Rede vom (umstrittenen) "Paradigmenwechsel" u.ä. sind hier nicht eingeflossen. Der Band ist vom Interesse her praxisorientiert. Theoretische Bezüge finden sich zu Rogers, Watzlawick, Affolter, Eggert, zur psychomotorischen Theorie, Kobi, Schenk-Danzinger, Ayres, Dumke, Tausch/Tausch, Bettelheim, A. Freud, Bobath, C.G. Jung, K. Jaspers, Stierlin, Voijta, Dörner/Plog, Feldenkrais, Frankl, Goffman, Lowen, Perls ... und natürlich U. Bruns, L. Tellington-Jones, W. Feldmann ...
 
 

c) Stil, Besonderheiten

Auch der Stil des Buches variiert von Artikel zu Artikel: Während die ersteren sehr ‚nachschlaggeeignet‘ mit Fotos und grafischen Darstellungen ausgestattet sind, ist der letzte eher textorientiert. Dennoch wirkt das Buch nicht wie Stückwerk, die Artikel sind einheitlich überarbeitet und die Sprache ist durchgängig gut lesbar.
 
 

d) Inhaltsverzeichnis

Vorworte ... 5
Geleitworte zur ersten Auflage ... 8

Einführung. Von Marianne Gäng und Carl Klüwer ... 15

Heilpädagogisches Reiten. Von Marianne Gäng ... 23

Kontakt mit dem Tier - ein menschliches Bedürfnis ... 23
Die Idee des Heilpädagogischen Reitens ... 23
Sinn -Zweck -Ziel ... 24
Materielle und andere Voraussetzungen ... 26 Die Auswahl des geeigneten Reittiers
Der Einsatz des Ponys
Erfahrungen und Ratschläge
Pflege des Ponys
Den Stall misten
Die Ausrüstung für das Pony
Die Kleidung für das Kind
Die Reitzeiten
Der Übungsreitplatz
Offenstall, Auslauf- und Gruppenhaltung
Planung und schriftliche Vorbereitung
Die emotionale Kontaktaufnahme zum Pferd ... 43 Hinweise für den Reitpädagogen Detailübersicht: Phasen der emotionalen Kontaktaufnahme ... 45
Allgemeine Übungen zum Heilpädagogischen Reiten ... 59
Spezielle Übungen zum Heilpädagogischen Reiten ... 71 Übungen, die den Gefühlsbereich ansprechen
Übungen zur Schulung der Wahrnehmung
Im auditiven Bereich
Im visuellen Bereich
Im taktilen Bereich
Übungen zur Schulung der Motorik
Übungen im sozial-integrativen Bereich
Übungen im Kommunikationsbereich
Das Reiten ... 94 Handpferdereiten
Reiten auf Stimmkommando
Angstfreies Reiten für Erwachsene und ältere Menschen
Schlußbemerkung ... 103
Heilpädagogisches Voltigieren. Von Antonius Kröger 105 Zielgruppen für das Heilpädagogische Voltigieren/Reiten 105
Bedingungen für Heilpädagogisches Voltigieren/Reiten 105 Das Medium Pferd
Verhalten des Reitpädagogen
Die Voltigiergruppe
Die Voltigierhalle
Zielsetzungen des Heilpädagogischen Voltigierens/Reitens im individuellen Bereich ... 109 Erhaltung bzw. Ausbau der Motivation
Aufbau von Vertrauen
Abbau von Ängsten
Erlernen richtiger Selbsteinschätzung
Aufbau von Selbstwertgefühl
Erhöhen der Konzentrationsdauer und -intensität
Training der Sensomotorik und sensorischen Integration
Zielsetzungen des Heilpädagogischen Reitens/Voltigierens im sozialen Bereich ... 119 Erlernen der Einstellung auf den anderen
Abbau von Aggressionen
Abbau von Antipathien
Hilfen zur Gründung von Freundschaften
Trainieren weiterer positiver sozialer Verhaltensweisen
Von der Notwendigkeit des Heilpädagogischen Reitens/Voltigierens ... 128
Psychomotorische Förderung bewegungsauffälliger Kinder durch Heilpädagogisches Voltigieren. Von Bernhard Ringbeck 131 Bewegungsauffälligkeiten im Alltag des Kindes ... 135
Ursachen von Bewegungsauffälligkeiten ... 140
Beobachtungskriterien und Prüfung motorischer Auffälligkeiten ... 143 Übungen in der Voltigierstunde
Motodiagnostisches Testverfahren
Fördermöglichkeiten beim Heilpädagogischen Voltigieren ... 148 Fang- und Laufspiele ohne Pferd
Bewegungsspiele mit dem Pferd
Das Verhalten des Pädagogen ... 156
Schlußbemerkung ... 157
Anbahnung und Gestaltung positiver Beziehungen mit Kleinpferden. Von Johannes Voßberg ... 160 Ein "Ponyhof" als Erlebnisraum ... 160 Die Anlage
Die Gruppen
Die Mitarbeiter
Die Kleinpferde
Die Beziehungsarbeit
Grundlagen des Beziehungserlebens mit dem Pferd ... 164 Die Beziehungsebene
Positive Beziehungsinhalte
Beziehungsmangel
Anbahnungsbereiche
Die Beziehungsfähigkeit des Pferdes ... 167 Die Beziehung zwischen Mensch und Pferd
Vom Pferd ausgehende Beziehungsinhalte
Der Bewegungsdialog
Voraussetzungen des Pferdes für die Beziehungsarbeit ... 172 Eignung und Auswahl
Haltung, Ausbildung und Training
Kleinpferde als Beziehungshilfen ... 177 Das Beziehungsdreieck Kind-Pferd-Pädagoge
Der organisierte Rahmen
Ritual ... 186
Selbsterfahrung durch das Medium Pferd. Von Carl Klüwer 189 Der Begriff des Selbst ... 189
Kleinkind und Selbstwahrnehmung ... 191
Übungen zur Selbsterfahrung ... 195
Psychisch kranke Menschen auf dem Pferd. Von Dirk Baum ... 206 Ausgangspunkt ... 206
Wer ist hier eigentlich "verrückt"? ... 206
Lebenslänglich: Chronisch psychisch behinderte Menschen in der Anstalt ... 210
Wegweiser - Mögliche Zielsetzungen ... 212 Reparativer Aspekt
Konservierender Aspekt
Evolutorischer Aspekt
Spezielle Zielsetzungen
Der Sitz auf dem Pferd unter biodynamischen Gesichtspunkten ... 219 Die Vision vom richtigen Sitz
Bewegungsrichtung der Haltung auf dem Pferd
Aufrichten und Lösen
"Es atmet mich"
Schnell wie der Wind
Sinnvolle Korrekturen des Sitzes
Vom Erstkontakt zum selbständigen Reiten ... 227 Kennenlernen
An der Longe
Am Führzügel
Handpferd
Die Zügel in die Hand nehmen
Therapiemüde - Beziehungsmüde
Einstieg, Übergänge, Rückschritte
Übungen auf dem Pferd ... 232 Sich auf den Hals legen
Mit geschlossenen Augen reiten
Sich hintenüber auf den Rücken legen
Beschreiben lernen
Bewegungsübung
Aktive und Passive
Alternativen schaffen
Fehler verstärken
Handeln auf Probe
Besondere Anforderungen an den Reitpädagogen in der Psychiatrie ... 240 Fehler machen können
Ungeduldig sein
Lernfähigkeit
Sich zurücknehmen
Grenzen
e) Klappentext des Verlages

Dieses Buch ist Pflichtlektüre für alle, die sich mit dem Einsatz des Pferdes in der Pädagogik, Heilpädagogik, der Psychotherapie und Rehabilitation befassen. Nicht die reitsportliche Ausbildung steht im Vordergrund, sondern die individuelle Förderung und die Selbsterfahrung durch das Medium Pferd, vor allem eine günstige Beeinflussung der Entwicklung, des Befindens und des Verhaltens. Im Umgang mit dem Pferd, beim Reiten und Voltigieren wird der Mensch ganzheitlich angesprochen: körperlich, geistig, emotional und sozial. Den Leser erwarten in dieser 4. Auflage
- Grundlagen und Perspektiven des heilpädagogischen Reitens,
- verständliche Erklärungen,
- zahlreiche Fotos,
- eine Vielzahl erprobter Übungen und Tips aus der Praxis,
- Anregungen für phantasievolles Spielen mit dem Pferd.
 
 

f) Inhaltliche Zusammenfassung bzw. Anmerkungen zum Inhalt:

Gäng/Klüwer: Einführung: Das Buch bietet zunächst einen gut systematisierten Überblick über die Geschichte des Interesses am Thema, die Interessensverschiebungen, die Gründung der Verbände (incl. deren Adressen) und die internationale Zusammenarbeit sowie einige Literaturhinweise.

Gäng: Dieser Beitrag gibt einen abgerundeten Überblick, die Aufteilung ist systematisch und umfassend, kein Bereich bleibt unerwähnt. Einen besonderen Schwerpunkt bildet die sehr praxisnahe Beschreibung von Vorbereitung, Aktenführung, dem groben Aufbau einer langfristigen Einehit sowie von einer großen Zahl einzelner Übungen. Trotz dieser Vorlagen, die durchaus geeignet sind, große Teile in eigene Konzeptionen einfach zu übernehmen, werden der Freiheit und Phantasie des Lesers keine Grenzen gesetzt. Er wird vielmehr angeregt, Ideen zu variieren, neue Einbettungen und ähnliche Übungen sich auszudenken. Das Weiterdenken wird auch dadurch provoziert, daß nahezu sämtliche Beschreibungen allgemein sind; der Leser wird nicht hineingezogen in die Geschichte eines konkreten Kindes oder eines bestimmten Ponys, sondern erhält einen Überblick mit möglichen Vertiefungspunkten, die Vertiefung selbst muß aber der einzelne selbst leisten. Wichtig ist der Autorin jeweils die Berücksichtigung aller beteiligten Perspektiven, wenn auch in unterschiedlicher Gewichtung: die berechtigten Interessen des Kindes stehen im Mittelpunkt, überlagern aber nicht die Bedürfnisse des Ponys sowie der Betreuungsperson. So beschäftigt sich ein Unterkapitel mit der Frage der artgerechten Tierhaltung und es werden auch Übungen beschrieben, die zur Freude des Ponys beitragen und so einem möglichen Verdruß vorbeugen. Besonders anregend ist die Beschreibung eines Erlebnispfades - mit Tunneln, Labyrinthen, einer Laube, verschiedenen Bodenbelegen und evt. Hindernissen -, der Aufmerksamkeit und Vertrauen, Naturerleben und das gemeinsame Überwinden von Schwierigkeiten verlangt. Originell und pädagogisch äuußerst sinnvoll scheint mir die Maßnahme zu sein, bei Schwierigkeiten und Ängsten des Pferdes die Kinder miteinzubeziehen und gemeinsam mit ihnen eine Lösung, ein Trainingsprogramm für das Pony durchzuführen. Ein großer Teil der beschriebenen Übungen, die in allgemeine und spezielle unterteilt sind, ist allerdings nur für Kinder geeignet, die verbalsprachlich kommunizieren bzw. Aufforderungen verstehen und sie umsetzen können. Für Kinder mit schweren geistigen oder mehrfachen Behinderungen insbesondere auch im kommunikativen Bereich oder mit autistischen Störungen bedarf es vielleicht noch anderer Settings. Sehr ermutigend ist, daß nahezu alle vorgestellten Ideen auch ohne Halle und anderes spezielles Zubehör realisierbar sind. Auch diesem Absatz sind einige Literaturangaben nachgestellt, die eine Orientierung u.a. an den Ideen von Ursula Bruns und Linda Tellington-Jones erkennen läßt.

Kröger: Die Ausführungen Krögers sind geleitet von dem grundsätzlichen Konzept der non-direktiven Pädagogik/Therapie von Carl Rogers. Darauf basierend wird herausgestellt, wie der Reitpädagoge im Vertrauen auf Das Pferd einerseits und im Vorbereiten der Situation andererseits Einfluß nehmen kann, ohne direktiv eingreifen zu müssen. In der Beschreibung der darauf folgenden Voltigierübungen wird diese Chance des Non-Direktiven jedoch schleichend zugunsten der Verstärkung (durch den Reitpädagogen) und des Prinzips der kleinen Schritte (das m.E. den Schwerpunkt stark auf den sportlichen Aspekt und weg vom beziehungsmäßigen verlagert) außer acht gelassen. Zugleich wird das Pferd gewissermaßen als Projektionsfläche angeboten (statt artgerechte Reaktionen zu interpretieren oder einfach zu registrieren), indem gesagt wird: "Klopft alle mal das Pferd. Vielleicht wird es den Streit der vorherigen Woche dann vergessen ...". (S. 122) Interessant sind in diesem Beitrag die eingeflochtenen Nebensätze, die von großer Erfahrung mit Kindern sprechen. Der Autor betont immer wieder, wie empfindlich Kinder in ihrer Motivation sind, wie schwer es Kindern fallen kann, ihr eigenes Unvermögen anzuerkennen. Auch einer Veränderung einer zunächst vielleicht unvollkommenen Abgleichung von Vorstellung und Realität eigener Leistungsfähigkeit oder der Bereitschaft, Hilfe durch andere (Kinder und Erwachsene) anzunehmen oder solche zu geben, wird in der Darstellung Rechnung getragen. Wichtig scheint mir zu sein, daß das Verhalten der Kinder wie auch die dahinterstehende Haltung als anzuerkennen geschildert werden. Nur dadurch kann das Kind die Reaktionen des Pferdes bzw. seine Selbsterfahrung wahrnehmen, reflektieren und an sich selbst u.U. Veränderungen vornehmen. Auch in der Reittherapie geschehen Veränderungen nicht automatisch, sonder sind Leistungen des Kindes, die es mithilfe des Pferdes hervorbringen konnte. Insofern rechtfertigt sich die starke Sportorientierung eventuell: Sie sorgt dafür, daß das Kind das Reiten oder Voltigieren als selbstgewählten Sport erlebt, statt eine erneute psychotherapeutische Methode erleiden zu müssen.

Ringbeck: Dieser Beitrag beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit dem Problem motorischer Entwicklungsstörungen und dessen Bearbeitung mithilfe psychomotorischer Förderung durch heilpädagogisches Voltigieren. Nach einem Kurzbericht über die Zunahme motorischer Probleme in den verschiedenen Altersjahrgängen auch z.B. bei Regelschülern erfolgt eine Konkretion von Einzelsymptomen. Diese werden in einem nächsten Schritt übertragen auf spezifische Fehlleistungen von Einzelbewegungen beim Heilpädagogischen Voltigieren. Diesen Schritt halte ich für sehr wichtig, weil er zeigt, daß eine Reihe von fehlerhaft ausgeführten Aufträgen weder durch Widersetzlichkeit noch durch mangelnde Konzentration bedingt sind, sondern vielmehr eine spezielle Beachtung verdienen. Bei der Beschreibung möglicher Ursachen wirkt allerdings die traditionelle Zweiteilung zwischen Medizin und Pädagogik, sodaß vermeintlich manifeste organische Schädigungen einerseits und umweltbedingte, erworbene Unzulänglichkeiten andererseits getrennt beschrieben werden. Leider ist auch der Duktus der folgenden Beschreibungen stark defizitorientiert: Die Beschreibungen derjenigen Übungen oder Teilfertigkeiten, die nicht oder nur in unzureichendem Maße dargebracht werden können (von einer abstrakten Gruppe bewegungsgestörter Kinder) nimmt einen breiten Raum ein. Auch das heilpädagogische Voltigieren selbst wird nicht in seinen einzigartigen Möglichkeiten, sondern als defizitär gegenüber dem üblichen Voltigieren "in einer Leistungsgruppe" (S. 149) und als die Defizite der Kinder in dem engen Bereich der Motorik ausgleichende Methode angesehen. Hilfreich ist eine ausführliche Beschreibung von Bewegungsspielen mit und ohne Pferd, die jeweils gut geeignet sind, um Bewegung, aber auch Teamfähigkeit, Schnelligkeit, Koordination und Strategie zu schulen. Die Vorbildfunktion der Persönlichkeit des Pädagogen wird betont mit den Worten "Pünktlichkeit, Kontinuität, Engagement, Begeisterungsfähigkeit, persönliche Wärme und Nähe" (S. 156).

Voßberg: Der Beitrag referiert die Erfahrungen eines konkreten Projekts der Beziehungsanbahnung mit Kleinpferden. Der Schwerpunkt ist absichtlich gewählt und wird ausführlich begründet. Die Klientel, die in den Genuß einer solchen Maßnahme kommt, scheint äußerst divergent; es liegen Erfahrungen zu nahezu allen Altersstufen, allen Schulformen und verschiedenen diagnostizierten und nicht explizit diagnostizierten Problemen vor. Ähnlich verschieden sind die verwendeten Tiere, die sich sowohl nach Alter als auch nach Rasse, Größe, Geschlecht und Farbe unterscheiden. Das gesamte Setting wirkt gewachsen, lebendig und echt. Durchaus sinnvolle Überlegungen zur einzurichtenden Reizarmut in der Reithalle im vorherigen Beitrag werden hier durch die Vielfalt der vorhandenen 'Räume' kompensiert. Nach einer ausführlichen Beschreibung zuwendenden Verhaltens von Pferden, das dem Menschen Gefühle von Anerkennung, Wertschätzung, Vertrauen etc. ermöglicht, beschreibt Voßberg auch abgrenzendes Verhalten als wichtige Erfahrungsquelle; nur durch die Einsicht, daß das Pferd die zuwendenden Verhaltensweisen 'freiwillig' macht, daß es 'auch anders könnte', kommt es als wirklicher Beziehungspartner in Betracht. "Erst angemessene Abgrenzungen lassen die Eigenständigkeit eines Individuums erkennen, mit dem es sich lohnt, eine Beziehung einzugehen. Die Beziehung zu einem Partner ohne Abgrenzungen ist einseitig und festgefahren, weil der eine Partner die Beziehungsinhalte bestimmt und der andere sich stets abhängig dreinfügt." (S. 170) M.E. kann diese Passage auch als Abwehr gegen vereinnahmende 'Machtspiele' verstanden werden, wie sie sich leider allzu häufig gerade innerhalb der Bewegung für Partnerschaft und Kooperation z.B. bei manchen der selbsternannten 'Pferdeflüsterer' mit dem Pferd zeigen. (Überlegungen zu diesem Themenfeld, weitere Zitate sowie eine ausführlichere Wiedergabe der eben zitierten Stelle finden Sie demnächst unter www.wilde-pferde.de/fluester.) Es folgen ausführliche Gedanken zum "Beziehungsdreieck", das sich m.E. anlehnt an das didaktische Dreieck Erich Wenigers. Dabei wird das Pferd als zur eingefahrenen Zweierbeziehung hinzukommende Beziehungserleichterung angesehen. Auch den unterschiedlich ausfallenden Beziehungen zwischen Kind und Pferd, Kind und Therapeut sowie Therapeut und Pferd wird je eine eigene Betrachtung gegönnt. Abgerundet wird der Aufsatz von Überlegungen zu und Erfahrungen mit Begrüßung und Abschied (beispielsweise das Ritual, den Kindern Fotos ‚ihrer‘ Ponys mitzugeben) sowie einigen Zitaten aus Briefen von Kindern.

Klüwer: Klüwers kurzer Beitrag beschäftigt sich in einer sehr grundlegenden basalen Weise mit der Frage, inwieweit das Pferd beim Aufbau des Selbst hilfreich eingesetzt werden kann. In einem theoretischen Teil wird der Begriff des Selbst als Instanz beschrieben, die die Funktionen der sozialen und der personalen Identität in sich vereint. Eine Analyse moderner Entfremdungszusammenhänge verdeutlicht die Notwendigkeit (angeleiteter) besserer Selbstwahrnehmung. Diese kann besonders gut mithilfe des Pferdes aktiviert werden. Klüwer beschreibt einerseits die Arbeit mit Kleinkindern und andererseits die mit Erwachsenen. Er setzt dabei bei dem menschlichen Grundgefühl der eigenen Körpererfahrung an. Bei der Arbeit mit Kleinkindern ist wichtig, daß sie überhaupt erst einmal die Wirkungen von Balance oder Ins-Rutschen-Kommen erfahren dürfen. Damit dies sinnvoll möglich ist, sollten die beteiligten Erwachsenen (möglichst TherapeutIn und ein Elternteil) rechts und links nebenher gehend das Kind auffangen, wenn es rutscht, aber keinesfalls zu früh korrigierend eingreifen. In der Arbeit mit Erwachsenen ist das Finden und Erfühlen (!) des ausbalancierten Sitzes der Hauptaspekt. Dazu schlägt Klüwer eine detailliert beschriebene Übung vor, bei der dem auf dem Rücken liegenden Erwachsenen jedes einzelne Gelenk als loszulassendes bewußt gemacht wird, um dann im Sitzen auf diese Erfahrung aufbauen zu können. Diese beiden Beschreibungen sind sehr konkret und gut nachvollziehbar beschrieben. Eine Abgrenzung von üblichen Reitschulanweisungen macht überdies deutlich, daß Anleitung und Interpretation der Selbstwahrnehmung auch von außen diese deutlich verändern kann. Erfolgt sie in einer für das Individuum befriedigenden Weise, so entspricht dies "dem primären Wohlbefinden, das wir in uns selbst erfahren, wenn wir - wie die Sprache sagt - ‚mit uns selbst im Lot sind‘!" (S. 202). Ein weitergehendes Ziel kann es dann sein, dieses Wohlbefinden auch auf andere "psychische und soziale Erfahrungszusammenhänge anzuwenden und im Alltag zu übertragen" (S. 204). Der Beitrag von Klüwer bedient sich an einigen Stellen psychoanalytischer Terminologie.

Baum: In diesem Beitrag geht es um psychisch kranke Erwachsene, die überwiegend in Langzeiteinrichtungen leben. Der Autor betont zunächst ausführlich die Besonderheiten, die beim Umgang mit dieser Klientengruppe zu beachten sind, die Folgen der Hospitalisierung, die allgemeinen Symptome jenseits der einzelnen Diagnose und der Ethos klientenzentrierter Haltung beim Therapeuten. Insbesondere ist es Baum wichtig klarzustellen, daß es sich bei seinem Konzept nicht um ein nachzuahmendes ‚Rezept‘ handelt, sondern um die ‚Eckdaten‘ oder besser auch ‚Eckfragen‘ seines Konzepts, das als in der Zeit veränderliches und insbesondere als auf jeden Klienten an jedem konkreten Tag neu abzustimmende Methodik angesehen werden muß. Diese Eckfragen beziehen sich einerseits auf die Zielrichtung des therapeutischen Handelns - allerdings betont der Autor, daß der Weg selbst meistens schon das Ziel ist -, die grob in eine reparative (an einzelnen Schwächen oder Defiziten orientierte), eine konservierende (Verschlechterung aufhaltende) und eine evolutorische (Stärken und Fähigkeiten des Klienten fördernde) unterschieden werden kann. Außerdem geht es ihm um die Aspekte Aufrichten und Lösen, Passivität und Aktivität, die Möglichkeit, durch verschiedene Übungen ein Bewußtsein für den eigenen Körper und den richtigen Sitz, für Vertrauen ins Pferd und Einflußnahme, für eine Schulung der Sinne beim Schließen der Augen und vieles andere mehr. Darüber hinaus geht es um eine mögliche Reihenfolge der einzelnen Schritte zwischen Kennenlernen, Longe, Führzügel, Handpferd und selbständigem Reiten. Die einzelnen Schritte werden dabei in Zusammenhang gebracht mit der persönlichen Vorgeschichte und den Wünschen des Patienten. Der letzte Abschnitt beschäftigt sich darüber hinaus mit den Anforderungen an den Reitpädagogen, seine Fähigkeit, Fehler machen zu können und sich einzugestehen, Geduld und Ungeduld einzuschätzen, seine Lernfähigkeit, die Fähigkeit, sich auch zurückzunehmen, ohne dabei aber die Verantwortung aus der Hand zu geben. Wichtig ist aber auch die Reflexion der Grenzen der heilpädagogischen Arbeit mit dem Pferd, insbesondere bei erwachsenen psychisch kranken Menschen.


URL: www.wilde-pferde.de/gaeng1.html; Stand: 18.09.2001;
Verantwortlich: Katinka Lutze & Thomas Klein: gata-Verlag --
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