a) Quantitatives: Fotos, Preis-Leistung, Seitenzahl, Größe
Das Buch enthält kein Foto; lediglich auf dem Umschlag ist ein
Foto von Gabrielle Boiselle abgebildet, das einen Shire zeigt, auf dem
drei Kinder reiten, von denen eines stark am Strick zieht, offensichtlich
ohne damit das mächtige Pferd zu beeindrucken. Ich persönlich
habe das Fehlen von Bildern nicht bemerkt, weil dieses eindrucksvolle Bild
im Hintergrund wirkte. Das Buch ist DIN A 5 groß und hat 190 Seiten.
Es kostet 38 DM. Es ist kartoniert (wie ein Taschenbuch mit glattem Einband)
und gut gebunden.
b) Schwerpunkte inhaltlich (z.B. Adressaten-Klienten, therapeutische Ausrichtung, Adressaten des Buches)
Dieses Buch ist von der eigenen wissenschaftlichen Ausrichtung her psychoanalytisch, allerdings nicht in einer ‚penetranten‘ Weise, bei der alle Beispiele ‚totinterpretiert‘ werden, sondern in einer sehr konstruktiven Weise: Alle Fallbeispiele werden zunächst offen für verschiedene Aspekte geschildert, danach werden als Reflexionshilfe psychoanalytische Begriffe oder Sichtweisen hinzugenommen. Dies geschieht auf eine so transparente Art, daß auch Zweifler oder Kritiker der Psychoanalyse von den Fallgeschichten und der Interpretation profitieren.
In Bezug auf die Klienten ist das Buch auch sehr weit: es werden Fallbeispiele von verhaltensauffälligen wie (geistig) behinderten Kindern und Erwachsenen in Gruppen und als Einzeltherapie geschildert.
Die Adressaten des Buches sind allerdings eingeschränkt in zweierlei
Hinsicht: Das Buch erwartet eine gewisse fachliche Vorkenntnis, es ist
nicht für absolute Laien geschrieben. Außerdem setzt es das
Interesse des Lesers voraus, sich wirklich auseinanderzusetzen und nicht
bloß einen ersten Eindruck über das Arbeitsfeld zu erlangen.
Der vorgebildete interessierte Leser aber - selbst wenn er in der Reittherapie
noch Laie ist - wird dieses Buch meines Erachtens zu schätzen wissen.
c) Stil, Besonderheiten
Das Buch ist für mein Empfinden so fesselnd geschrieben wie ein
Roman. Ich habe es geradezu verschlungen. Außerdem wurde das Fehlen
von Fotos wie bei einem Roman ersetzt durch die inneren Bilder, die beim
Lesen entstehen. Insbesondere einige in den Fallgeschichten beschriebenen
Personen wurden sichtbar. Dennoch handelt es sich selbstverständlich
nicht um ein poetisches, sondern ein wissenschaftliches Werk. Die Autorin
verwendet Sprache in diesem Sinne präzise und treffend, aber nicht
steril, sondern lebendig. Alles in allem ein stilistisch wie inhaltlich
äußerst ansprechendes Buch.
d) Inhaltsverzeichnis
Vorwort ... 7
1. Einleitung ... 9
2. Psychoanalytisch orientierte Arbeit mit Pferden ... 18
2.1 Theoretische Grundlagen ... 18
2.1.1 Faktoren heilpädagogischer Arbeit
2.1.2 Die Beziehung zwischen Mensch und Pferd
2.1.3 Das Risiko, vom Pferd zufallen, und andere Gefährdungen
2.2 Das heilpädagogische Setting ... 37
2.2.1 Kind-Pferd-Pädagogin
2.2.2 Stuten, Hengste und Wallache
2.2.3 Heilpädagogische Einzelarbeit
2.2.4 Zusammenarbeit mit Institutionen
3. Heilpädagogische Praxis ... 73
3.1 Einzelarbeit ... 73
3.1.1 Benjamin: "Und wenn er dann losläßt?
3.1.2 Tim: -Männerpinkeln aus dem Penis und Frauen aus dem
Popo "
3.1.3 Sabrina: "Nicht SIE sollen treiben
3.2 Zusammenarbeit mit einer Schule für Erziehungshilfe ... 109
3.2.1 Anna: 'Eins vor, zwei zurück "- der Weg aus der Hemmung
"
3.2.2 Sharif: "Ich bin der Boß auf der Suche nach Halt
3.3 Zusammenarbeit mit einer Schule für blinde und sehgeschädigte Kinder ... 140
3.3.1 Martina: 'Wie sind die Großmutter von Vicky ...
3.3.2 Ich sage "HALT" - Ivo sagt: " LOS
3.3.3 Alina: "ICH will!"
4. Chancen und Grenzen der Arbeit mit Pferden ... 152
Anhang ... 160
Drei Kurstypen für die Arbeit mit Schulen für Erziehungshilfe:
"Zeit mit Pferden", "Akrobatik mit Pferden" und "Gymkhana-Reiterspiele"
160
Adressen ... 179
Quellennachweise ... 180
Literatur ... 182
e) Klappentext des Verlages
Das psychoanalytisch orientierte Reiten bietet Kindern und Jugendlichen den Umgang mit dem Pferd und das Reiten als Medium zur Darstellung ihrer Konflikte. Im umgrenzten Raum der Reithalle, des Reiterhofes und seiner näheren Umgebung können die Probleme von einzelnen und Gruppen dargestellt werden.
Die Autorin stellt theoretisch und praktisch dar, wie mit der Pädagogin
langsam eine Beziehung entsteht, in der sich die inneren Themen des Kindes,
seine Sorgen, Wünsche, Aggressionen und inneren Konflikte, entfalten
können und mit Hilfe der Pädagogin in Worte gefaßt werden.
Beide lernen, die in Erscheinung tretenden Gefühle und Vorstellungen
in einen Zusammenhang mit den Problemen und Symptomen des Kindes zu bringen
und darüber deren Ursachen, die bisher unbewußt waren, zu verstehen.
f) Inhaltliche Zusammenfassung bzw. Anmerkungen zum Inhalt:
Reflexion - das ist eine der Verhaltensweisen, die man von Therapeuten jeglicher Ausrichtung erwartet. Dies gilt umso mehr, als bei der Reittherapie nicht nur das eigene Verhalten gegenüber dem Kind/Patienten verantwortet werden muß, sondern zudem die Wahl und der Einsatz des Pferdes und die Wechselwirkungen zwischen Pferd und Reiter.
Zu einer gelingenden Reflexion gehört auf der einen Seite ein fundiertes theoretisches Wissen und auf der anderen Seite eine gute Beobachtungsgabe (für den Patienten und das Pferd - und sich selbst).
Das hier vorliegende Buch reflektiert Situationen aus der Reittherapie in einer meiner Meinung nach einzigartig gelungenen Weise so, daß der Leser davon möglichst viel mitnimmt. Dies erreicht die Autorin dadurch, daß sie insbesondere bei der Schilderung von Fallbeispielen ausführlich beschreibt, was ein geübtes Auge sehen würde, ihre Einschätzung der Situation wiedergibt und danach schildert, was sich im weiteren Verlauf ereignet hat. Dabei scheut sie sich auch keineswegs, Fehleinschätzungen oder eigenes Fehlverhalten wiederzugeben. Sie ermöglicht damit dem Leser, sich auch seine jeweils eigenen Fehldeutungen und Fehler einzugestehen und womöglich im weiteren Lese-Verlauf zu korrigieren.
Auch schreibt Susanne Kupper-Heilmann so lebendig und anschaulich, daß an verschiedensten Punkten eigene Erfahrungen reflektiert und mit den geschilderten verglichen werden können, seien es pädagogische Erfahrungen, solche mit anderen Reitern und ‚Reitkindern‘ oder auch Selbsterfahrungen ...
Beispielsweise schildert die Autorin die verschiedenen Reaktionen von Jungen und Mädchen auf eine Stute und einen Wallach, die sich erst nach mehrschrittiger Reflexion und Setting-Veränderung als ein Problem der Zuschreibung von guten und bösen Charaktereigenschaften auf das jeweilige Pferd aufgrund seines Geschlechts herausgestellt haben. (S. 48ff) Nicht selten werden Stuten und Hengste/Wallache dabei von Kindern mit ihrer Erfahrung der Prototypen von Mann und Frau identifiziert: Papa und Mama.
Trotz provokanter Thesen beispielsweise zur Einschätzung von Hengste-Reitern bleibt die Autorin außerordentlich sachlich und differenziert. Sie versteht es, Bilder entstehen zu lassen, ohne dabei aber plakativ oder vorschnell wertend zu werden. Und sie läßt ihre Leser daran teilhaben.
Aber auch ganz praktische Hinweise, wie der Erstkontakt gestaltet werden kann, wer bei Gruppenkursen von Schulen oder ähnlichen Institutionen den Vertrag unterschreiben soll, wie oft und wann Teamsupervisionen oder Elterngespräche stattfinden sollten etc. fehlen nicht.
Abgerundet wird das Buch mit einer am Ende als Quintessenz der vorhergehenden Sammlung von Erfahrungen wirkenden Zusammenfassung von Chancen und Grenzen des heilpädagogisch orientierten Reitens sowie einer im Anhang wiedergegebenen Planung von drei Kursen für Kindergruppen. Diese werden detailliert beschrieben und in ihrem Aufbau begründet, so daß der Praktiker eine Grundlage für die eigene Planung an die Hand bekommt.
Diese Buch ist darüber hinaus auch für Menschen geeignet, die außerhalb des therapeutischen Umfelds ihren Umgang mit Reitern oder ‚Reitkindern‘ und Pferden angeleitet durchdenken wollen. Allerdings setzt das Buch sprachlich und inhaltlich einige Fachkenntnis aus der Psychoanalyse voraus; Begriffe wie Übertragung und Gegenübertragung, projektive Identifikation oder symbiotische Verstrickung werden zwar am Beispiel deutlich, erklärt werden sie jedoch nicht. Aber es reicht, die psychoanalytische Sichtweise zu kennen, teilen muß man sie nicht. Auch der psychoanalytische Skeptiker kann bei der Lektüre des Bandes nur gewinnen. Unabhängig von der eigenen (pädagogischen) Ausrichtung und selbst dann, wenn der Leser bei den einzelnen geschilderten Beispielen andere Entscheidungen treffen würde: Ich denke, jeder Leser kann hier unglaublich profitieren. Und damit letztlich auch alle am Umgang mit dem Pferd beteiligten Personen.
Diese Rezension wurde zunächst geschrieben für die Fachzeitschrift Freizeit im Sattel, Ausgabe Oktober 2001.